Tonnagebesteuerung: Vorlage an das BVerfG
Der BFH hat das BVerfG angerufen, um die Frage zu klären, ob § 52 Abs. 10 Satz 4 EStG i.d.F. des Abzugsteuerentlastungsmodernisierungsgesetzes (AbzStEntModG) v. 02.06.2021 (BGBl I 2021, 1259) gegen das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot (Art. 20 Abs. 3 GG) verstößt, soweit diese Vorschrift die rückwirkende Anwendung des § 5a Abs. 4 Satz 5 und 6 EStG i.d.F. des AbzStEntModG für Wirtschaftsjahre anordnet, die nach dem 31.12.1998 beginnen (BFH, Beschluss v. 19.10.2023 – IV R 13/22; veröffentlicht am 01.02.2024).
Hintergrund: Gemäß § 5a Abs. 4 Satz 3 Nr. 3 EStG ist ein nach Maßgabe des § 5a Abs. 4 Satz 1 EStG ermittelter und nach Satz 2 gesondert und einheitlich festgestellter Unterschiedsbetrag in dem Jahr des Ausscheidens eines Gesellschafters hinsichtlich des auf ihn entfallenden Anteils aufzulösen und dem Gewinn hinzuzurechnen. Der aufzulösende Betrag wird dem Gewinnanteil desjenigen Mitunternehmers anlässlich seines Ausscheidens aus der Gesellschaft zugerechnet, für den im Feststellungsbescheid nach § 5a Abs. 4 Satz 2 EStG entsprechende Anteile an Unterschiedsbeträgen festgestellt wurden.
Nach der jahrzehntelang geltenden Verwaltungsauffassung und -praxis ging der Unterschiedsbetrag bei einer Buchwertfortführung auf den Rechtsnachfolger über. Entsprechend erfolgte beim Rechtsvorgänger keine Hinzurechnung (BMF, Schreiben v. 12.06.2002 – IV A 6 – S 2133a – 11/02, BStBl. I 2002, 614, Rd. 28, in der Fassung des BMF-Schreibens v. 31.08.2008 – IV C 6 – S 2133-a/07/10001, BStBl. I 2008, 956). Diese sich im Widerspruch zum Gesetzeswortlaut befindliche Anwendungspraxis hatte ihren Hintergrund in einer sachlichen Billigkeit, weil anderenfalls in den Fällen eine erhebliche Schlechterstellung vorgelegen hätte, in denen die Sonderabschreibung nach § 82 f EStDV in Anspruch genommen worden war.
Nach dem Urteil des FG Hamburg v. 19.12.2017 – 2 K 277/16 sollte der Unterschiedsbetrag bei steuerneutralen Anteilsübertragungen zu Buchwerten (§ 6 Abs. 3 EStG, § 24 UmwStG) hingegen nicht auf den Rechtsnachfolger des Gesellschafters übergehen. Der BFH hatte mit Urteilen v. 28.11.2019 – IV R 28/19 und v. 29.04.2020 – IV R 17/19 die vom FG Hamburg vertretene Ausfassung bestätigt und entschieden, dass der in § 5a Abs. 4 Satz 3 Nr. 3 EStG angeführte Tatbestand des Ausscheidens eines Gesellschafters auch Übertragungen nach § 6 Abs. 3 EStG umfasse: Der Begriff des Ausscheidens in § 5a Abs. 4 Satz 3 Nr. 3 EStG umfasse jedes Ausscheiden eines Gesellschafters, d.h. jeden Verlust der (unmittelbaren) Mitunternehmerstellung, unabhängig davon, ob der Gesellschafter unentgeltlich oder entgeltlich, im Wege der Einzel- oder der Gesamtrechtsnachfolge ausscheide. Danach scheide auch derjenige im Sinne des § 5a Abs. 4 Satz 3 Nr. 3 EStG aus, der seinen Anteil unentgeltlich auf einen anderen übertrage, sei es im Wege der Einzel- oder der Gesamtrechtsnachfolge (BFH, Urteil v. 01.10.2020 – IV R 4/18, s. hierzu unsere Online-Nachricht v. 11.03.2021).
Die Neufassung des § 5a Abs. 4 EStG durch das Abzugsteuerentlastungsmodernisierungsgesetz v. 02.06.2021 (BGBl. I 2021, 1259) stellt nach Auffassung der Vorinstanz eine Reaktion des Gesetzgebers auf diese Rechtsprechung dar (Schleswig-Holsteinisches FG, Urteil v. 27.04.2022 – 5 K 48/21). Die in § 52 Abs. 10 Satz 4 EStG geregelte rückwirkende Anwendung des § 5a Abs. 4 Satz 5 bis 7 EStG für alle Wirtschaftsjahre nach dem 31.12.1998 hält die Vorinstanz für verfassungsgemäß. Eine echte Rückwirkung liege nicht vor, da der Gesetzgeber die bestehende, über Jahrzehnte geübte Verwaltungspraxis formal in Gesetzesform gegossen habe (s. hierzu unsere Online-Nachricht v. 04.10.2022).
Dem folgten die Richter des BFH nicht:
- Die in § 52 Abs. 10 Satz 4 EStG n.F. angeordnete rückwirkende Geltung des § 5a Abs. 4 Satz 5 und 6 EStG n.F. ist nach Überzeugung des vorlegenden Senats verfassungswidrig (gleiche Ansicht: FG Hamburg, Vorlagebeschluss v. 24.11.2022 – 6 K 68/21; HHR/Barche, § 5a EStG Rz 74; kritisch zur Rückwirkung auch Schindler in Kirchhof/Seer, EStG, 22. Aufl., § 5a Rz 27a; andere Ansicht: z.B. Brandis/Heuermann/Hofmeister, § 5a EStG Rz 88).
- Die Regelung stellt für das Streitjahr 2013 sowohl in formaler als auch in materiell-rechtlicher Hinsicht eine echte Rückwirkung beziehungsweise Rückbewirkung von Rechtsfolgen dar, die verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt ist. Ausnahmen von dem grundsätzlichen Verbot echt rückwirkender Gesetze sind nicht ersichtlich.
- So wurde durch die Neuregelung nicht etwa eine Rechtslage rückwirkend festgeschrieben, die zuvor einer gefestigten Rechtsprechung und einheitlichen Rechtspraxis entsprochen hat.
- Zwar hat es über einen langen Zeitraum eine einheitliche Verwaltungspraxis gegeben, die inhaltlich mit § 5a Abs. 4 Satz 5 und 6 EStG n.F. übereinstimmt.
- Diese Auffassung der Finanzverwaltung wurde jedoch zu keinem Zeitpunkt von den Instanzgerichten oder dem BFH geteilt (s. FG Hamburg, Urteil v. 19.12.2017 – 2 K 277/16 sowie Beschluss v. 10.12.2019 – 6 V 278/19, BFH, Urteile v. 28.11.2019 – IV R 28/19 und v. 29.04.2020 – IV R 17/19 sowie BFH, Urteil v. 21.02.2022 – I R 13/19, Rz 16).
- Nach Auffassung des Senats kann eine – das Vertrauen des Bürgers in die Geltung eines Gesetzes zerstörende – einheitliche „Rechtsüberzeugung“ nicht gegeben sein, solange die in Rede stehende Verwaltungspraxis keine Zustimmung durch die Rechtsprechung erfahren hat. Erst recht liegt keine einheitliche „Rechtsüberzeugung“ vor, wenn die zuständige Fachgerichtsbarkeit – so wie hier – einheitlich eine von der Verwaltungspraxis abweichende Rechtsauffassung vertritt.
- Verfassungsrechtlich ist das Vertrauen des Steuerpflichtigen in die Verlässlichkeit der durch den Gesetzgeber geschaffenen und in die durch die Gerichte für richtig erkannte Rechtslage schutzwürdig, nicht aber ein Vertrauen in die veröffentlichte Verwaltungsauffassung. Wollte man dies anders sehen, könnte die Finanzverwaltung die Gesetzesauslegung stark vorprägen und die nach der Verfassung allein den Gerichten anvertraute rechtsprechende Gewalt inhaltlich nachhaltig beschneiden. Denn der Gesetzgeber könnte in derartigen Fällen eine ihm nicht genehme Auslegung eines Gesetzes durch die Rechtsprechung auch mit echter Rückwirkung im Sinne der Rechtsauffassung der Finanzverwaltung ändern.
- Die vom FA und dem BMF angeführten Argumente führen ebenfalls zu keiner abweichenden verfassungsrechtlichen Beurteilung.
- Ebenso ist eine verfassungskonforme Auslegung dahin, dass § 5a Abs. 4 Satz 5 und 6 EStG n.F. im Streitjahr nicht anwendbar ist, nicht möglich.